Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (2024)

Anzeige

Vom Dach des Goldenen Tempels ratterten Maschinengewehre, und in den Straßen der Umgebung schlugen Mörsergranaten ein. Amritsar, die für die kleine Religionsgemeinschaft der Sikhs „Heilige Stadt“ im nordindischen Bundesstaat Punjab nahe der pakistanischen Grenze, befand sich am 5. Juni 1984 im Kriegszustand.

Anzeige

Seit Tagen schon belagerten indische Sicherheitskräfte den Tempelkomplex um einen künstlich angelegten See, in dessen Mitte der mit Blattgold verkleidete Harmandir Sahib lag, der eigentliche Goldene Tempel. Denn hier und in den umliegenden Gebäuden hatten sich mehrere hundert extremistische Anhänger der an sich toleranten Religion verschanzt. Sie forderten einen unabhängigen Sikh-Staat mit dem Namen „Khalistan“, was so viel wie „Reines Land“ bedeutete.

Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (1)

In den 1980er-Jahren bekannten sich von rund 700 Millionen Menschen in Indien etwa 18 Millionen als Sikhs; nur in dem 1966 eigens gegründeten Bundesstaat Punjab stellten sie eine knappe Mehrheit der Bevölkerung. Hier stieß der Aufruf eines 1947 geborenen Predigers namens Jarnail Singh Bhindranwale auf Widerhall: Vor allem junge Sihks bewunderten ihn für seine Kompromisslosigkeit.

Anzeige

Bhindranwale, ein hochgewachsener und langbärtiger Mann, der oft einen Patronengurt um den Leib trug, forderte von seinen Anhängern, weder Alkohol zu trinken noch Drogen zu nehmen. Das Treuegelöbnis in der Ehe müsse unbedingt eingehalten werden, außerdem die für alle männlichen Sikhs geltende Regel, sich nicht die Haare zu schneiden. Gerade weil er derart scharfe Regeln aufstellte, zog er junge Leute an. Eine Selbstradikalisierung begann.

Im ohnehin traditionell unruhigen Nordwesten Indiens kam es immer öfter zu Gewalttaten zwischen fundamentalistischen Sikhs und Hindus. Das Hamburger Magazin „Der Spiegel“ berichtete Anfang Mai 1984 von einer „Rebellion militanter Extremisten der Sikh-Sekte gegen die Zentralregierung, die täglich neue Opfer fordert“. Drei Wochen später ging die Nachricht um die Welt, extremistische Sikhs hätten im Punjab ein Auto angehalten, in dem acht Hindus saßen: „Die Sikhs zwangen die Hindus, auszusteigen und sich in einer Reihe aufzustellen. Dann erschossen sie nacheinander die acht Menschen.“

Schon Mitte Juli 1982 hatten Bhindranwale und etwa 200 bewaffnete Militante ein Gästehaus für pilgernde Sikhs besetzt, die im Goldenen Tempel beten wollten. Er machte das Haus zu seinem Hauptquartier. Im April 1983 tötete ein Heckenschütze einen hochrangigen Polizisten, als er den Tempelkomplex nach einer Verhandlung verließ. Im Verdacht standen Anhänger von Bhindranwale, was aber nie geklärt werden konnte. Im Dezember 1983 besetzten Fundamentalisten das zweitwichtigste Gebäude des Heiligtums, den Akal Takht.

Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (3)

Anzeige

Ein aus der indischen Armee entlassener Generalmajor, der sich den Extremisten angeschlossen hatte, ließ den Komplex militärisch befestigen: In die marmorgeschmückten Wände des Akal Takht wurden Löcher geschlagen, um Geschützstellungen zu schaffen; auf dem Dach entstanden sichere Maschinengewehrnester. Alle Stellungen schützte man durch Sandsäcke und neu errichtete Ziegelsteinmauern. In den meisten Gebäuden des Tempelkomplexes gab es ähnliche Arbeiten, mit Ausnahme des heiligsten aller Tempel, des Harmandir Sahib in der Mitte des künstlichen Sees. Hier gab es lediglich MG-Stellungen auf dem Dach.

Außerdem wurden massenhaft Waffen bis hin zu Panzerabwehrraketen und Mörsern aus sowjetischer Produktion eingeschmuggelt. Die militanten Sikhs rechneten mit einem Angriff durch das indische Militär. Mit den Verteidigungsanlagen im Tempelkomplex wollten sie im Falle eines gewaltsamen Vorgehens der Regierung Zeit gewinnen. Bilder von Kämpfen um das Heiligtum sollten die an sich nicht radikalen Sikhs in den Dörfern des Punjab mobilisieren und dazu bringen, massenhaft nach Amritsar zu marschieren, um Bhindranwale zu unterstützen. Um eine absehbare Belagerung durchstehen zu können, lagerte man ausreichend Lebensmittel für einen Monat ein.

Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (4)

Anfang Juni 1984 spitzte sich die Lage zu: Indiens Ministerpräsidentin Indira Gandhi verlangte ein schnelles Ende des Unruheherdes. Zuerst wurde eine 36-stündige Ausgangssperre über den Punjab verhängt, dann drehte man dem Tempelkomplex den Strom ab. Es gab Schießereien, von denen die indische Regierung angab, sie seien von fundamentalistischen Sikhs ausgegangen, während diese umgekehrt reguläre Truppen verantwortlich machten. Mehrere tausend Pilger hielten sich im Zentrum von Amritsar auf.

Anzeige

Anzeige

Auch über den weiteren Verlauf der Kämpfe gibt es keine Gewissheit: Beide Seiten beschuldigten sich damals und bis heute, die Eskalation verursacht zu haben. Forderte die Armee die Pilger per Lautsprecherdurchsage nun auf, den Tempelkomplex zu verlassen? Das wurde 1984 so von Augenzeugen berichtet und fand Eingang in die vor allem englischsprachige Literatur zur indischen Zeitgeschichte; 2017 jedoch urteilte ein Bezirksrichter von Amritsar, dafür gebe es keine schriftlichen Beweise. Reagierten die indischen Soldaten auf Feuer aus den Stellungen der Fundamentalisten – oder provozierten sie selbst?

Lesen Sie auch

Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (5)

Sturm auf Mekka 1979

Die größte Massenhinrichtung in der Geschichte Saudi-Arabiens

Sicher ist: Am Abend des 5. Juni 1984 begann der Sturmangriff, die „Operation Bluestar“. Fallschirmjäger und eine besonders ausgebildete Spezialeinheit gingen gegen die Stellungen der Bhindranwale-Anhänger vor. Doch diese Befestigungen umfassten auch in etwa 30 Zentimetern Höhe fest montierte, parallel zum Boden schießende leichte MGs: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt.

Während nach offiziellen Angaben 554 Militante und Zivilisten im Tempelkomplex getötet wurden, bei „nur“ 83 eigenen Opfern, nahmen die Sikhs für sich in Anspruch, lediglich 35 Kämpfer verloren zu haben, aber fast 700 indische Soldaten getötet zu haben. Ein Radpanzer der Armee wurde durch eine sowjetische Panzerfaust ausgeschaltet, woraufhin die Kommandeure sieben Kampfpanzern des britisch-indischen Typs Vijayanta die Feuererlaubnis gaben. Deren 105-Millimeter-Granaten brachen den Widerstand rasch.

Beim anschließenden Nahkampf wehrten sich viele Bhindranwale-Anhänger noch, als sie schon keine Munition mehr hatten – sie attackierten die indischen Soldaten mit Dolchen und Krummschwertern. Im Akal Takht wurde ein hochgewachsener, bärtiger Mann mit Patronengurt um den Leib von mehreren Garben aus Schnellfeuergewehren getroffen; nach offiziellen Angaben zählte man an der Leiche 72 Einschüsse.

Der Tote wurde als Jarnail Singh Bhindranwale identifiziert, angeblich sogar von seinem eigenen Bruder. Sogar Fotos des entsprechenden Leichnams wurden abgedruckt. Andererseits bestreiten manche Skihs weiterhin, dass der radikale Anführer am Morgen des 6. Juni 1984 gestorben sei. Allerdings ist nie wieder jemand in Erscheinung getreten, der sich als Bhindranwale ausgegeben hätte.

Der Akal Takht und mehrere andere Gebäude wurden schwer beschädigt, der noch wichtigere Harmandir Sahib nur leicht; zu der angedrohten Sprengung des Heiligtums kam es nicht. Indira Gandhi hatte gewonnen – allerdings nur für kurze Zeit.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern

Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Drittanbieter freigeben

Zwei Mitglieder ihrer aus Sikhs bestehenden Leibgarde erwiesen sich als heimliche Anhänger Bhindranwales. Sie erschossen am 31. Oktober 1984 die Witwe des Politikers Feroze Gandhi, der nicht verwandt war mit dem Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung Mahatma Gandhi. Der eine der beiden Täter verfeuerte das gesamte Magazin seiner Maschinenpistole auf die Regierungschefin, der andere drei Schuss aus seinem Revolver. Indira Gandhi erlitt schwerste Wunden; fünf Stunden nach dem Attentat wurde ihr Tod offiziell bekannt gegeben.

Die beiden Attentäter hatten sich ergeben. Einer von ihnen wurde dennoch sofort umgebracht, der andere zusammen mit einem Mitverschwörer zum Tode verurteilt und Anfang 1989 gehängt. Alle drei gelten radikalen Sikhs ebenso wie Jarnail Singh Bhindranwale längst als Märtyrer.

Indien 1984: Wer versuchte, im toten Winkel der Verteidiger an deren Positionen heranzukriechen, wurde zerfetzt - WELT (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Gov. Deandrea McKenzie

Last Updated:

Views: 6019

Rating: 4.6 / 5 (46 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Gov. Deandrea McKenzie

Birthday: 2001-01-17

Address: Suite 769 2454 Marsha Coves, Debbieton, MS 95002

Phone: +813077629322

Job: Real-Estate Executive

Hobby: Archery, Metal detecting, Kitesurfing, Genealogy, Kitesurfing, Calligraphy, Roller skating

Introduction: My name is Gov. Deandrea McKenzie, I am a spotless, clean, glamorous, sparkling, adventurous, nice, brainy person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.